Linie 51

> Thomas Thelen

Ich erinnere mich noch sehr gut, sogar an Details. An das Geräusch von kleinen Steinen, die auf dem Weg lagen und unter meinen Schuhsohlen knirschten. Ich sehe den kleinen Jungen noch vor mir, sehe ihn, wie er allein den Weg entlanggeht, den Blick nach unten gerichtet. Nie drehte er sich um. Auch das ist mir in Erinnerung geblieben. Und auch die Distanz, die zwischen ihm und den anderen Jungs lag. In zehn Metern Entfernung gingen sie hinter ihm her. Es waren vier aus seiner Klasse. Warum sie ihn auf dem Kicker hatten, hat er nie erfahren. Es war einfach so. 

Wenn der Junge den Bus der Linie 51 an der Haltestelle verließ, stiegen die vier Jungs ebenfalls aus dem Bus aus, obwohl sie eigentlich noch eine Haltestelle hätten weiterfahren müssen. Den längeren Heimweg zu Fuß nahmen sie allerdings nur allzu gerne in Kauf, wenn sie ihm mal wieder eins auswischen konnten. Und so ging er. Eingeschüchtert. Schnellen Schrittes. Weil er schnell zu Hause sein wollte. In Sicherheit. Einmal hatten sie ihn von hinten mit den kleinen Steinen beworfen, die auf dem Weg lagen. Der Großteil der Steine war an ihm vorbeigeflogen. Doch einige Steine trafen ihn tatsächlich am Rücken. Zum Glück trug er eine dicke Jacke, wirklich weh tat das also nicht. Nur in seiner Seele schmerzte jeder einzelne Treffer. Hätte er ein bisschen Mut gehabt, dann hätte er sich einfach umgedreht und sich ihnen in den Weg gestellt. Doch sie waren zu viert. Die Sache schien aussichtslos. Sobald er zu Hause war, fühlte er sich sicher. Trotzdem merkte ihm seine Mutter an, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Doch so oft sie ihn auch fragte, so sehr sie auf ihn einredete, er nahm seinen Seelenschmerz mit auf sein Zimmer. Er mochte nicht darüber reden. Die anderen Jungs mussten ihre Gründe haben. Er würde es aushalten. 

Irgendwann ging nichts mehr. An einem Morgen mitten im Schuljahr. Da saß er da, in Tränen aufgelöst. Es war der Moment, als er seinen Eltern sagte, dass er ab sofort nicht mehr in die Schule gehen würde. Komme, was wolle, er würde nicht mehr hingehen. Zu seiner Überraschung waren die Versuche der Eltern, ihren Jungen doch noch zum Gehen zu bewegen, nur halbherzig. Sie ahnten längst, dass etwas nicht stimmte. Die Noten waren schlecht, und jeder, der den ansonsten aufgeweckten und freundlichen jungen Kerl in den letzten Monaten erlebt hatte, nahm eine Veränderung an ihm wahr. 

Den Rest hatte ihm ein völlig misslungener Auftritt bei einer Karnevalsveranstaltung gegeben, als er als einziger Junge, mit einigen Mädchen aus der Klasse, einen Auftritt als Band „Village People“ (er war der Leadsänger, der Polizist) komplett in den Sand gesetzt hatte. Dabei war es noch nicht mal seine Schuld gewesen. Dummerweise war exakt in dem Moment, als die ersten Töne von „Y.M.C.A.“ erklungen waren, vorne beim Eingang zur Aula der Karnevalsprinz mit seinem kompletten Gefolge einmarschiert. Niemand interessierte sich nun noch für die „Village People“. Alle in der Aula wendeten ihre Blicke von der Bühne in Richtung des Prinzenpaars. Wie begossene Pudel waren die Mädchen und er von der Bühne geschlichen. Am Tag darauf war er von den Jungen aus der Klasse den kompletten Vormittag über gehänselt worden. Er fragte sich, woher das Wort überhaupt stammte. Hänseln!? Hatte das irgendwas mit dem Namen Hans zu tun? Egal, es machte die Sache keinen Deut besser. Er war das Gespött der Klasse. Selbst die Mädchen, die tags zuvor noch auf der Bühne mit ihm gestanden hatten, stimmten ein in den Chor der Gehässigen. In den Bus war er an diesem Tag erst gar nicht mehr eingestiegen. Von einer Telefonzelle aus hatte er seine Mutter angerufen, ihr gesagt, er habe Bauchschmerzen. Dankenswerterweise hatte sie ihn mit dem Auto abgeholt. Er würde ihr das niemals vergessen.

„Ich geh‘ da nicht mehr hin. Ich will nicht mehr.“ Seine Eltern hatten die unmissverständliche Botschaft verstanden. Sie würden handeln müssen. Einige Tage später überraschten sie ihren Sohn mit der Nachricht, dass er von der nächsten Woche an auf eine andere Schule wechseln würde. Er nahm die Nachricht ohne große Begeisterung auf. Und er fragte sich, ob das so einfach möglich sein würde: die Schule wechseln, mitten im Halbjahr. Doch wenn er an die Jungen aus seiner Klasse dachte, die hinter ihm aus dem Bus stiegen, waren alle Bedenken im nächsten Augenblick bei Seite gewischt.

Neulich hat er sich wieder einmal in den Bus gesetzt. So wie früher ganz nach hinten, damit er die vier Jungen vor sich sitzen und jederzeit hatte beobachten können, was sie im Schilde führten. Die Linie 51 existiert immer noch, auch wenn seit jener Zeit 40 Jahre vergangen sind. 40 Jahre! Und die Erinnerungen sind auch noch da. Doch sie tun nicht mehr weh. Und so sitzt er hinten in dem Bus und steigt wie früher an der Haltestelle aus, an der er immer ausgestiegen ist. Und er geht den Weg entlang, und das Knirschen seiner Schuhe auf dem Steinweg ruft bestimmte Bilder in ihm wach. Er weiß, dass sie nicht mehr hinter ihm sind. Er hastet nicht. 

Er geht seelenruhig. Er denkt an damals, denkt an den Schulwechsel, ist immer noch überrascht, wie sehr sich sein Leben von diesem Tag an verändert hat. In der neuen Klasse auf der neuen Schule wurde er im ersten Jahr zum Klassensprecher gewählt. Überhaupt kam er bei seinen Mitschülerinnen und Mitschülern gut an. Er blühte förmlich auf, auch die Noten wurden besser. Seine besten Freunde würde er an der neuen Schule finden. Sie sind es 40 Jahre später immer noch. 

Manchmal kommt es ihm vor, als sei jene schwierige Episode gar nicht Teil seines Lebens, sondern habe sich in einem Leben abgespielt, bei dem er nur Zuschauer war. Doch natürlich weiß er, dass dies alles genau so geschehen ist. Er ist froh, dass am Ende alles gut geworden war, aufgegeben hatte er nie. Nur das eine Mal. An jenem Morgen, als er seinen Eltern unter Tränen zu verstehen gegeben hatte, dass er niemals mehr zu dieser Schule gehen würde. Da hatte er die Segel gestrichen. Womöglich war das eine besondere Form von Kraftanstrengung und Mut gewesen. Einfach zu sagen, dass es so, wie es war, nicht mehr weiterging.

Die Jungen von damals hat er niemals zur Rede gestellt. Sie sind ihm später sporadisch begegnet. Er ist ihnen nicht böse. Was vorbei ist, ist vorbei. Sie haben ihm sein Leben für eine kurze Zeit zur Hölle gemacht. Warum, das wird er wohl nie erfahren. Es interessiert ihn auch nicht mehr. Sie haben ihn stark gemacht. Ohne, es zu wissen.

 

Über Thomas Thelen

Chefredakteur der Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten und verantwortet in dieser Funktion auch die digitalen Auftritte beider Tageszeitungen. Thomas Thelen liebt die Bücher, den 1. FC Köln und Menschen, die ihr Herz am rechten Fleck haben. Er ist verheiratet, Vater dreier Kinder und lebt mit seiner Familie in Baesweiler.